Urban Girls
Gilgi - eine von uns. Nach dem Roman von Irmgard Keun
Die Reiherkönigin. Ein Rap. von Dorota Maslowska
Theater Aachen. Premiere 09.01.2015
Inszenierung: Jenke Nordalm
Bühne und Kostüme: Jelena Nagorni
Musik: Henrik von Holtum
Mit: Emilia Rosa de Fries, Katja Zinsmeister
Pressestimmen
Yo, Mann! Augen auf! Das ist ein Mädelsabend! Von der Hinterbühne der Aachener Kammer glotzen sie einen unromantisch an: zwei Frauenaugen. Daneben an den Wänden lauter Frauenbilder: auf Pop-, Werbe-, Filmplakaten, abgerissen, überklebt. Darunter Müll, Schreibmaschine, Ghettoblaster. Uns erwarten schonungslose Frauenblicke auf prekäre Verhältnisse gestern und heute - aber mit Augenzwinkern. Es ist eine ambitionierte Idee, die zwei starken Texte - Irmgard Keuns Debüt "Gilgi - eine von uns" (1931) und Dorota Maslowskas Rap "Die Reiherkönigin" (2005) - zu verschwistern. An der Schreibmaschine sitzt zunächst Gilgi, Stenotypistin im Köln der 20er Jahre. Sie verliert ihre Arbeit, wird ungewollt schwanger, will aber selbstbestimmt leben und lieben. Danach folgt eine Art drastische Fortsetzung 2004 in Warschau: mit Ghettoblaster tritt die Rap-Punk-Poetin MC Doris alias Autorin Maslowska auf, allein mit Kind, "die soziale Lage beschissen". Emilia Rosa de Fries spielt beide Frauen ohne Illusionen. An ihrer Seite switcht Katja Zinsmeister oft komisch von Rolle zu Rolle: in Keuns Köln von der Erzählerin und Gilgis Freundin zu Männern und Müttern. Auf 15 kurze Szenen wurden die fast 300 Romanseiten verdichtet, die Regisseurin sorgt für fließende Übergänge. Nach der Pause zieht das Tempo noch an. Maslowskas Erzählerin MC Doris mischt einen lustig-lustvollen Schwall aus Jugendslang und Fäkaljargon, Konsum- und Medienkritik, Literaturzitaten und Popsplittern. Das rappt, reimt und reihert. Die rasend rhythmisierte Vorlage schreit nach einem lauten Vortrag. Yo, Girls! Welch ein Kraftakt! Applaus, Applaus.
Aachener Nachrichten 11. Januar 15
Sie
trennen 76 Jahre, und doch haben Gilgi und MC Doris einiges gemeinsam
- zuallererst: Sie sind Kinder der urbanen Welt und üben scharfe
Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen, in denen sie leben. Dazu
sind sie Hauptfiguren von zwei erfolgreichen Romanen. Beide
leben in prekären Verhältnissen und beide haben einen sehr
kritischen Blick darauf. Beide haben ein neues Frauenbild: „neues
Selbstbewußtsein der Frau“, man ist nicht mehr abhängig von einem
Mann. Man versucht selber sein Glück, versucht selbständig zu sein.
Das geht wunderbar zusammen, klar liegen über 70 Jahre dazwischen,
aber beide Frauen berühren aktuelle Fragen – obwohl sie soweit
auseinander liegen. Auch GILGI behandelt Fragen wie: was ist die
Rolle der Frau in unserer Zeit, wie bringe ich Beruf und Familie
unter einen Hut, was passiert mit Menschen in kapitalistischen
Verhältnissen, wie sieht's mit Solidarität aus? Beide
Hauptrollen werden von Emilia Rosa de Fries gespielt und sie spielt
beide Rollen sehr souverän und sehr sympathisch, ganz natürlich und
nett als Gilgi, dann kommt dieser schöne Wechsel zur etwas
bissigeren MC Doris. Katja Zinsmeister ist Springerin, die in ganz
verschiedene Rollen schlüpft.
Die
REIHERKÖNIGIN könnte eine Art Fortsetzung sein. Da, wo GILGI
aufhört (die schwangere Frau, die aus ihrer Heimatstadt fortgeht und
jetzt allein ein Kind großziehen will)fängt die EIHERKÖNIGIN an.
Die sitzt jetzt tatsächlich allein in der Wohnung in der Großstadt
und zieht ihr Kind groß. Ein sehr schönes Bühnenbild mit
abgeranzten Werbe- und Popplakaten. Man hat das Gefühl, man sitzt
wirklich im Warschauer Brennpunktviertel.
WDR 3 10. Januar 15
Die beiden Stadtpflanzen im rauen Klima städtischer Hektik, Anonymität und Brutalität klammern sich tapfer am Boden fest. Emilia Rosa de Fries (Gilgi, Doris) und Katja Zinsmeister in ihren ständig wechselnden Rollen tauchen die Figuren unter der einfühlsamen Regie von Jenke Nordalm in expressionistische Farben. Sprache flutet kaskadenartig in das Grau der Bühnen-Szenerie. Die Wände sind mit Plakaten tapeziert. Eine schmale Rampe begrenzt die Arena des Protests und der existenziellen Philosophie des Alltags, ganz nah an der Unterwelt sozialer Pathologie. Gilgi durchkreuzt im Köln der 30er Jahre die Stätten der angepassten Bürgerlichkeit, bevölkert mit kleinlicher Krämer-Seelen, die im Karneval ihrer Hemmungslosigkeit frönen. Die Bank-Rap-Poetin MC Doris steht unter Dampf, pendelt zwischen Aggression und Innenschau, wehrt sich im dynamischen Sprechgesang über einen dunkelfarbigen Klangteppich gegen die Bitternis des Gemüts. Man sitzt auf den Brandresten großer Gefühle, spürt die Allmacht des Konsumzwangs. Alle Sehnsüchte werden hinter einem rüden Wortschwall verborgen. Am Ende des rund zweistündigen Doppelabends zeigt sich Helligkeit am wolkenverhangenen Horizont weiblichen Rollenzwangs. Wo gestutzte Schwingen in angepassten Kreisen den freien Flug verhindern, sind starke Charaktere wie Gilgi und Doris bereit zum Durchbruch. Der Beifall gilt dem gesamten Team, aber vor allem den beiden Akteurinnen, die wendig und treffsicher auf einer Palette des Ausdrucks zwischen Protest, Zynismus, Humor, Wortwitz und Eloquenz surfen und voluminöse Textpakete mit Hinter- und Doppelsinn stemmen müssen.
Grenzecho 16. Januar 15