atlas
von Thomas Köck
Wuppertaler Bühnen. Premiere 01.02.2020
Inszenierung: Jenke Nordalm
Bühne und Kostüm: Vesna Hiltmann
Mit:Thomas Braus, Julia Meier, Philippine Pachl, Julia Wolff
Pressestimmen
Ganz, ganz starkes Stück Sprechtheater. Zeitgeschichte, Flüchtlingsgeschichte, menschliches Leid: Im Theater am Engelsgarten hatte das wie ein antiker Sprech-Chor konzipierte Stück "atlas" des mehrfach preisgekrönten Österreichers Thomas Köck unter der Regie von Jenke Nordalm Premiere. Zwei beinahe vergessene "Randnotizen" der 70er und 80er Jahre rücken ins Zentrum - und ein großartiges vierköpfiges Wuppertaler Ensemble sorgt für einen echten Gänsehaut-Abend...Thomas Braus, Julia Wolff, Philippine Pachl und Julia Meier sind auf einem Niveau unterwegs, das dieses Stück zu einem Sprechtheater-Erlebnis macht. Braus setzt Maßstäbe in Sachen Sprach-und Körperbeherrschung, Philippine Pachl liefert ihre sicher beste Wuppertaler Leistung bisher ab. Wenn die beiden die sich anbahnende "Wir sind das Volk-Einheit" beobachten, kann einem angesichts dessen, was da bald kommen wird (der rassistische Progrom von Hoyerswerda 1991, von der heutigen Lage in Teilen Ostdeutschlands gar nicht zu reden) das Blut in den Adern gefrieren. Aufsehenerregend aber Julia Wolff: Zehn oder 15 Minuten lang schildert sie - als kleine, zerbrechliche Person eingebettet in ein riesiges Boat-People-Katastrophen-Foto (großartige Bühnenbild-Idee) - das Kentern ihres Flüchtlingsschiffes und den Verlust ihrer Tochter. Ein atemloses Text- und Gefühlsgebirge arbeitet Julia Wolf da ab - und (offen gesagt) man kämpft als Zuschauer mit den Tränen. Das Beinahe-Weinen wandelt sich in Wut, wenn sie diesen Satz spricht: "Nie wieder, haben sie gesagt, nie wieder sollen Menschen auf der Flucht ertrinken, stand unter den Bildern, und dass der Westen sich jetzt einsetzt für die auf der Flucht Ertrinkenden". Lächerliche 40, 45 Jahre ist das Boat-People-Thema her - und die EU-Staaten schachern bei der Mittelmeer-Seenotrettung um Menschenleben. "atlas" ist hochpolitisch, hochbrisant. Vergessene Facetten ... vom Rand der Zeit holt es in den Vordergrund, setzt diese Facetten in den Heute-Kontext. Es lässt uns mit den Augen der "Kleinen" sehen, die zwischen "großen" Ereignissen zerrieben werden. Und "atlas" ist ein hochklassisches Theater-Text-Kunstwerk. Das Wuppertaler Ensemble ist dieser Aufgabe gewachsen.
Wuppertaler Rundschau 4. Februar 20
Drei Generationen sind involviert, Großmutter, Mutter und Enkeltochter kreisen, jede für sich und doch miteinander verbunden, umeinander. Ihre Biografien sind eingebettet in die historischen Ereignisse, ihre Migrationsgeschichte hat im momentanen Zeitgeschehen Aktualität. Die Thematik ist Ankommen und Dazugehören. Wer darf kommen, wer bleiben? Wer sind wir, wer die anderen und was ist ein Leben wert?... Zwei zentrale Begriffe des Stücks tauchen immer wieder auf: "Zeit" und "Wir". Sie spielen in der Inszenierung von Jenke Nordalm eine große Rolle. Wie aus der Zeit gefallen wirken die Akteure und sind doch an sie gebunden. In ihrer Migrationsbiografie begegnen sie sich auf einer Ebene in den verschiedenen Zeitzonen. Bringt die Zeit die Geschichte am Ende in Ordnung? Das Dokumentationsdrama zeigt in den biografischen Erzählungen die Suche nach dem "Wir-Gefühl". In der Zeit des Mauerfalls bleibt die kleine Familie davon ausgeschlossen. Die Migranten gehören nicht mehr dazu. Verloren sind die Figuren, jede für sich... Wer ist wichtig in der Zeit? Die Figuren schaffen sich durch ihren Sprechchor einen Resonanzraum, sie sprechen in die Geschichte hinein. Sie klagen an, erinnern sich, fragen wie mit einer Stimme. Sie sind eine Familie von Aus-der-Zeit-Gefallenen, begegnen sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und gehen doch aneinander vorbei. Und trotzdem gibt es Verbindendes und eine Gleichzeitigkeit zwischen Gestern und Heute, ein Einrichten in zeitlichen und räumlichen Zwischenräumen.
Westdeutsche Zeitung 3. Februar 20
In "atlas" werden Biographien dreier Generationen von Frauen aus Vietnam mit historischen Ereignissen wie dem Schicksal der "Boat People" und der Deutschen Einigung mit brennender Aktualität verknüpft. Autor Thomas Köck verbindet dabei virtuos Bilder von Bootsflüchtlingen oder Wirtschaftsfragen im Gestern und Heute in mitreißenden Perspektiven. Das Besondere dabei ist die Dramaturgie. Der Stoff des Autors liest sich eher als ein Gedicht als eine Story mit klarer Abfolge. Ereignisse überlappen, ja verwischen sich und lassen sich nicht unbedingt einzelnen Personen oder Zeiten zuordnen. Das gab der Inszenierung von Jenke Nordalm dann auch viel Freiheit in den unterschiedlichen Zeitebenen, die sie geschickt zu nutzen verstand. Es stehen Monologe und Thesen im Raum, die Situationen in einer besonderen Erlebnistiefe beschreiben, die dem Zuschauer in schneller Rangfolge präsentiert werden...Die Fragen bleiben: Wer geht und wer kommt, wer darf ankommen, wie viel wert ist ein Leben, wessen Geschichte wird gehört, wer sind wir - und wer sind die anderen? Allzu simple Welterklärungen werden mit den Mitteln der Kunst hinterfragt.
Die Stadtzeitung 3. Februar 20