Der Rausch
von Thomas Vinterberg
WLB Esslingen. Premiere 20.03.2025
Inszenierung: Jenke Nordalm
Bühne und Kostüm: Vesna Hiltmann
Video und Sound: Ulf Steinhauer
Mit: Eva Dorlaß, Lily Frank, Kristin Göpfert, Daniel Großkämper, Felix Jeiter, Marcus Michalski, Reyniel Ostermann
Pressestimmen
Die Regisseurin Jenke Nordalm hat den "Rausch" nach Thomas Vinterbergs gleichnamigem Film gleich eingangs recht scharfsinnig auf eine tiefere Stufe menschlich-männlicher Entwicklungsdramen zurückdatiert, noch unter der Alkohol-Tragigkomödie, deren Ursache sie ist. Die Szene im Lehrerzimmer deutet an: ein grundsätzliches Unverständnis zwischen Männern und Frauen, ein Beziehungsdesaster zwischen den Geschlechtern von Strindberg'schen Dimensionen. Jeder der vier Pädagogen der Midlife-Crisis - ihr wahres Unterrichtsfach - lebt dieses Desaster oder hat es erlebt. Auf eigene und doch vergleichbare Weise. Wie eine freundliche, lindernde Macht spürt man(n) den Sog der Männerfreundschaft - Trost, Zuspruch, gegenseitiges Verständnis - und bleibt zusehends unter sich. Und was tun Männer, wenn sie unter sich sind? Saufen.
Psychologielehrer Nikolaj kommt mit der These eines norwegischen Psychiaters daher (beide gibt es übrigens wirklich), dem Menschen fehlen 0,5 Promille Alkohol im Blut zu seinem Glück. Also beschließen die vier innerlich im Dienst ergrauten Oberstudienräte, sich in einem dosierten und kontrollierten Experiment auf "Betriebstemperatur" zu bringen. So wie manche Leute Blutdrucksenker nehmen. Oder Antidepressiva. Es folgen: Höhenflüge und Absturz, das Waterloo einer Illusion namens Microdosing. Aber zunächst läuft es wunderbar. Beschwingt flutscht ihr Unterricht, für den die vier Schauspieler in Nordalms Regie den pädagogischen Anspruch in der frustrierten Wirklichkeit versacken lassen. Preisgegeben haben sie diesen Anspruch nie, aber jetzt notiert er den Lehrern selbst das "Ungenügend" ins Gewissen.
Auf der Suche nach der verlorenen Jugendzeit lässt die Regisseurin harten Rock aufspielen, zu dem man die eingerosteten Knochen schütteln kann: auch dies ein in Euphorie verpackter Totentanz. Was bereits abgestorben ist, stellt Daniel Großkämper als Geschichtslehrer Martin mit linkischer Bewegung und stammelndem Unterrichtsgespräch beklemmend deutlich dar - bevor ihm die Promille wieder auf die Sprünge und alten Schwünge helfen. Felix Jeiter zeigt als Nikolaj die passive Aggressivität hinter einem Rest an jovialer Fassade: Von der Welterklärung mit Kierkegaard schweift er flugs zur Selbstentblößung als pädagogische Methode, erzählt jedem, der es hören will oder nicht, und vor allem seinen Schülerinnen und Schülern von seinem sexuellen Frust wegen seiner ins Ehebett "pissenden" Kinder. Hier spricht der schiere, entwürdigende Hass, und als Nikolaj auf dem Höhepunt der Alkoholexzesse selbst einnässt, erklärt er das zum Racheakt. Das Päckchen, das Marcus Michalskis Turnlehrer Tommy zu tragen hat, ist ein kindlicher, dauerfrustrierter Narzissmus: Den kann er pseudoironisch noch einigermaßen ausbalancieren, wenn er vom allerersten Sieg der von ihm, der "Trainerlegende", trainierten Bambini-Fußballmannschaft schwadroniert. Tragisch ohne pseudo aber sein Tod im Wasser. Mehr als die anderen brauchte er, was sie sich gemeinsam antrainiert haben: den Alk. Was Tommy unter günstigeren Umständen hätte sein können: Michalski lässt es - unaufdringlich und souverän - als Fallhöhe ahnen. Reyniel Ostermanns Musiklehrer: ein Fall zwischen Missmut und Sensibilität, grundiert von nie bewältigter Hemmung. Bis der Alkohol alles löst in tanzender Lust und kotzendem Elend.
Die Unfähigkeit, erwachsen zu werden, erzeugt, wie die klassische Tragödie, Furcht oder fordert Mitleid. Das ist viel verlangt. Sogar für Anika (Kristin Göpfert mit beherrschter Verzweiflung), die trotz allem und mit den gemeinsamen Kindern (Lily Frank und Eva Dorlaß) als Geist des schlechten Gewissens und Beziehungsschutzengel zugleich um Martin ringt. Alles vergebens, in Nordalms Regie gibt es kein reifendes Erwachen. Martin kehrt zurück zum Alkohol. Er tanzt, befreit und verloren. Emanzipation als Regression.
Stuttgarter Zeitung, 21.März 25