Kontakt:

Jenke Nordalm
Johannesstr.20
70176 Stuttgart

Corpus Delicti

von Juli Zeh

Landestheater Tübingen. Premiere 15. April 2011 (eingeladen zu den Baden-Württembergischen Theatertagen)

 

Trailer

 

Inszenierung Jenke Nordalm

Bühne und Kostüm Jelena Nagorni

Mit: Raffaele Bonazza, Christian Dräger, Katja Gaudard, Jessica Higgins, Nadja Midgal, Udo Rau, Gotthard Sinn, Philip Wilhelmi und dem Chor der Tübinger Bürgern 

Pressestimmen

Orwell, Huxley, Kafka winken um die Ecke, allein die Inhalte haben sich verschoben. Juli Zeh nimmt den gesunden Volkskörper ins literarische Visier und beschreibt eine Gesellschaft, in der Gesundheit, "Vernunft", Nützlichkeit und Leistungsfähigheit oberste Priorität haben. "Selbstverantwortlichkeit" statt Selbstbestimmung lautet die Devise, eigensinnige Lebensformen sind gesetzeswidrig: "Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon." Widerständler werden im kollektiven Immunsystem sofort erkannt und verbannt.

Das von Jenke Nordalm (Regie) und Jelena Nagorni (Ausstattung) inszenierte Stück liefert die entsprechend beklemmende Stimmung und lässt die Zuschauer Teil des Rundumvorsorge- und Überwachungssystems werden, indem sie die Privatsphäre von Mia von allen Seiten umgeben: die Zuschauer sitzen sogar auf der Bühne und damit auch zu Gericht über Mia. Eine große Kugel dient als Projektionsfläche der Überwachungskamera für alle persönlichen Daten, die über einen implantierten Chip übertragen werden. Die Regie hat außerdem einen Chor installiert: Tübinger Bürger als allpräsentes Sprachrohr der Propagandamaschinerie.

Auch wenn es sich um ein diskursives Stück handelt, agieren die Schauspieler sehr glaubhaft nach realistischen und psychologischen Maßstäben, schließlich greift hier das Politische extrem ins Persönliche über.

Science Fiction? Negativ-Vision? Überzogene Kritik an neoliberalen und biologischen Tendenzen? Die deutsche Geschichte jedenfalls hat ja gezeigt, was alles möglich ist.

Reutlinger Nachrichten 18. April 11

 

Im großen Saael des Landestheaters sitzt man diesmal nicht nur im Zuschauerraum, sondern auch auf einer Gegentribüne, die Spielfläche wird zu einem schmalen Steg dazwischen. Ene Arena, in der gekämpft wird. Ein Gerichtssaal, die Angeklagte wird tatsächlich hin und wieder vorgeladen. Allerdings wird auch - Ausweitung der Kampfzone - der Zuschauerraum bespielt. Vor allem aber ein Sinnbild für ein von allen Seiten einsehbares Leben. Wie ja auch das seit dem Tod ihres Bruders deutlich in Schräglage geratene Seelenhaus (Ausstattung: Jelena Nagorni) der eigentlich sehr systemtreuen Mia Holl überaus sichtdienlich ist.

Juli Zeh ist alles andere als eine Dramatikerin. Der Schuss unkontrolliertes Leben, nach dem sich ihr Stück sehnt, fehlt diesem selbst. Die Reflexions-, Argumentations-, Illustrastionsmaschine der Autoin hat jederzeit alles im Griff. Jenke Nordalms - sie hat das großartige "Paradies" am LTT inszeniert - kluge Striche und dichte Bilder tun ihr Bestes, um das vergessen zu machen, auch die Akteure dieses Abends. Allen voran Nadja Migdal.

Die "ideale Geliebte" ist insofern die eigenartigste Figur dieses Stücks, als sie nur Phantasiegeburt und Medium ist, ein Erbgeschenk des toten Bruders Moritz, verkörperte Erinnerung, Mahnung und Beistand für die Schwester Mia. Weil Moritz die ekligen Schnecken der schnell und sauber von allem Leben gereinigten Welt vorzieht, kriecht sie mit Schneckenhörnchen über die Bühne, liest Mia aber auch mal unschneckig schnell die Leviten. Katja Gaudard, flirrend präsent, bisweilen eine irritierende Spur neben der Rolle. Ihr zusehen heißt mit dem Unvorhersehbaren rechnen. Also mit dem Leben. Die berückendste Umsetzung dieser Inszenierung ist eine Angelschnur, die Mia in Moritz' Zelle schmuggelt, und die von der idealen Geliebten zwischen beiden gespannt wird: Gefängnis-Trennwand, unsichtbares Band, aber auch Galgenschnur.

Mit dem Pathos der Schmerzensfrau hat die Inszenierung weniger Probleme. Wenn Mia sich -mein Körper gehört mir - den Chip aus dem Arm schneidet, wird die blutige Angelegenheit groß auf einer Monitorkugel übertragen. Da könnte schon mal jemand aus dem Publikum ohnmächtig werden. Ist aber gut.

 Schwäbisches Tagblatt 18. April 11 

 

Wer selbstständig denkt und skeptisch bleibt, gilt als Systemgegner. Wer Gefühle wie Vertrauen, Liebe, Zufriedenheit, Mitgefühl, aber auch Angst zeigt, wird verfolgt und vor Gericht gestellt: Es ist ein erschreckendes, ein furchteinflößendes Szenarium, das Juli Zeh in ihrem Werk »Corpus Delicti« zeichnet, eine Science-Fiction-Gesellschaft, in der absolute Gesundheit und körperliche Schönheit die höchsten Werte darstellen.

Jeder Bürger ist dazu verpflichtet und wird deshalb allumfassend überwacht und kontrolliert. Diese beklemmende Atmosphäre komponiert Jenke Nordalm in ihrer Inszenierung am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) in starken Bildern eindrücklich und eindrucksvoll.

Das Aufbegehren der persönlichen Freiheit gegen einen zunehmend totalitären Staat spiegelt sich im intensiven und tiefgehenden Spiel der Protagonisten, die mit einer guten Ensembleleistung überzeugen – allen voran Nadia Migdal mit ihrer mimischen Ausdrucksstärke und einer kraftvollen, beinahe schon archaischen Darstellungskunst.

Der zerstörerische Kampf zwischen Allgemeinwohl, einhergehend mit der totalen Durchleuchtung des Einzelnen, und der Selbstbestimmung des Menschen findet im die Zuschauerränge mit einbeziehenden Bühnenbild von Jelena Nagorni, das den gesamten Raum des Theaters nutzt, neue Sichtweisen: Die Kälte, die Distanz zwischen Ideologie und Mensch, die Machtlosigkeit des Einzelnen wird augenfällig, bildlich greif- und spürbar.
Zu dieser Authentizität, dieser auf den Punkt in markante Szenen gesetzten Regiearbeit trägt auch das Stilmittel des fein ins Geschehen verwobenen und schön aufeinander abgestimmten Chores bei. Das Spiel ist konzentriert und durch die inhaltliche Sprache poetisch dicht – in der mitunter drastischen Aussage unter die Haut gehend: »Wir kommen aus dem Dunkel und gehen ins Dunkel, wenn wir es richtig machen, liegen dazwischen Erlebnisse.«
Dabei entbehrt Zehs Stück, das auch als Roman erschienen ist, nicht einer gewissen sarkastischen Heiterkeit, welche Nordalm mit filigranem Strich clownesk zu übersetzen und in eine körperliche Bildlichkeit zu gießen versteht. Diese Intensität ist zwei Stunden begreifbar, ja teilweise fast schon brutal nahe und schonungslos klar: »Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann.«

Schwarzwälder Bote 23. Mai 11


Die Autorin hat mit „Corpus delicti“ das Horrorszenario eines totalen Überwachungsstaates entworfen. Dabei scheint die Realität  nur einen  Wimpernschlag  hiervon  entfernt  –  man denke nur an Nacktscanner und  Datenspeicherung. Schafft die Nähe des  Themas  zur Wirklichkeit bereits ein hohes Maß an Beklemmung, so fesselt Zeh den Zuschauer auch dank eines faszinierenden   dramaturgischen Aufbaus sowie  der  Sprachgewalt  der  facettenreich angelegten Charaktere.
Regisseurin Jenke Nordalm stellt die Akteure in klar definierte, spärlich ausgestattete Räume. Umso stärker wirken Dialoge und  Spiel der hervorragend, teils mit enormem physischen Einsatz agierenden Schauspieler. Die Bühne gibt die Andeutung eines Gerichtssaals wieder. Die Zuhörer kommentieren das Geschehen chorisch. In diesen Raum sind die anderen Räume, Wohnung,  Gefängniszelle, Seeufer, integriert.
Hauptdarstellerin Nadia Migdal stattete den Charakter der Mia Holl mit einem hohen Maß an Emotionalität  aus.  Höchst  eindrucksvoll ist die Spielweise von Katja Gaudard. Als Gewissen  Holls und als „ideale Geliebte“  bestach  sie  mit  starker Bühnenpräsenz. Komplettiert wurde die überzeugende schauspielerische Leistung von Jessica Higgins als Richterin und von Udo Rau  als Journalist.

Augsburger Allgemeine Zeitung 16. Mai 11